In Projekten wird aus offensichtlichen Gründen häufig der schnellste und einfachste Ansatz zur Problemlösung gewählt. Dass dies oft nicht optimal ist, offenbaren uns technische Schulden.
Die Bedeutung von technical debt im Projektkontext
Timo Gerhardt, Montag, 27. März 2023 | Lesedauer: 10 min.Technische Schulden im Projektkontext
Das Konzept der “technical debt” kommt ursprünglich aus dem Bereich der Softwareentwicklung. Zustande kommen diese Schulden, wenn die schnelle Fertigstellung gegenüber einer optimalen Lösung bevorzugt wird. Die Differenz zwischen der möglichen optimalen Lösung und der tatsächlich umgesetzten Lösung wird als technical debt bezeichnet. Schließlich nimmt das Projektteam Schulden in Form von Fehlern in der Software auf, die später zu begleichen sind. Dies ist genau dann der Fall, wenn sich die Defizite offenbaren und Anpassungen vorgenommen werden müssen, um im Nachgang doch noch zu einer optimalen Lösung zu kommen. Die Zeit, die durch die schnellere unterlegene Lösung zustande kommt, wird also nicht eingespart, sondern der Zeitaufwand fällt erst zu einem späteren Zeitpunkt an. Eine entsprechende Nachbesserung kann unter Umständen sogar einen Mehraufwand verursachen.
Wie schon bei dem Konzept Work-in-Progress, über welches wir vor Kurzem berichteten, kommt auch dieser Begriff aus einem anderen Unternehmensbereich mittlerweile im Projektmanagement zum Einsatz. Inwiefern dieses Konzept auf diesen Kontext übertragen werden kann und welche entscheidende Rolle technische Schuld im Projektmanagement spielt, erklären wir Ihnen im Folgenden.
Inhalt
- Ein Überblick über technische Schulden im Projektmanagement
- Eine Abgrenzung der technical debt
- Warum entstehen technische Schulden?
- Verschiedene Arten technischer Schuld
- Chancen und Risiken technischer Schulden
Ein Überblick über technische Schulden im Projektmanagement
Wie auch in der Softwareentwicklung bezeichnet der Begriff der technischen Schuld den Umstand, dass bei der Planung und bei der Umsetzung des Projekts Abstriche gemacht werden, um Zeit und somit Kosten zu sparen. Die Aufnahme der Schulden erfolgt meistens bewusst, aber gerade auch in Stresssituationen teilweise unbewusst. Die Abstriche, die hierbei gemacht werden, können in unterschiedlichster Form in Erscheinung treten.
Konzipieren Sie beispielsweise im Rahmen eines Projekts mit Ihrem Team ein Kunststoffteil aus dem 3D-Drucker, so kann im Zuge einer Zeitersparnis ein minderwertiger Kunststoff verwendet werden, welcher jedoch schneller druckbar ist. Die Qualität des Prototyps oder auch des fertigen Produkts leidet darunter.
Wenn in einem anderen Fall der zeitkritische Punkt in der tatsächlichen Entwicklung des Produktes liegt, wird möglicherweise darauf verzichtet, zweitrangig erscheinende Features zu implementieren. Hierunter leidet schließlich der Nutzen, den das Produkt für den Verwender bringen soll.
Ebenso können aber auch bei der internen Organisation technische Schulden aufgenommen werden. So kommt es unter Zeitdruck vor, dass Meetings sehr kurzgehalten werden. Dies hat negative Folgen für die interne Kommunikation. In diesem Bereich kann somit zu einem späteren Zeitpunkt ein gewisser Nachholbedarf entstehen.
Technische Schulden können in Ihrem Projekt also in verschiedenster Form auftreten.
Eine Abgrenzung der technical debt
Bei diesem Konzept wird durch den Schuldenbegriff bewusst eine Analogie zur Finanzwirtschaft hergestellt. Denn durch das Aufnehmen eines Kredites können gewisse Dinge, wie Investitionen, schneller umgesetzt werden, als wenn der Betrag erst vollständig selbst erbracht werden müsste. Diese Schulden hat man wiederum zu einem späteren Zeitpunkt – inklusive Zinszahlungen - zurückzuzahlen. Analog behält man sich im Projektkontext als Team die Bereitstellung technischer Kapazitäten vor, die zu einem späteren Zeitpunkt jedoch zu erfolgen hat. Zuvor realisierte Einsparungen bei der Performance des Produkts können schließlich nicht von Dauer sein und das Einlösen des Leistungsversprechens verschiebt sich nur auf einen späteren Zeitpunkt.
Diese Schuldenmetapher wird genutzt, da das zugrundeliegende Phänomen sehr abstrakt ist. Dementsprechend kursieren viele Definitionen im Internet, die versuchen, den Kern zu erfassen. Eine sehr passende, unverzerrte und neutrale Definition gibt ein wissenschaftliches Paper von Holvitie et al., welches im Jahre 2018 im Journal für Information and Software Technology erschienen ist. Hier wird technische Schuld als Konsequenz aller Aktionen dargestellt, die bewusst oder unbewusst den Kundennutzen oder Projektziele über eine technisch fundiertere Implementierung stellen.
Warum entstehen technische Schulden?
Ob es sich bei der Aufnahme von technischen Schulden nun um eine bewusste Entscheidung oder um ein unbemerkt auftretendes Phänomen handelt, hängt meistens kaum von der Ursache ab. Der wohl häufigste Grund, nämlich anstehende Deadlines, können dafür sorgen, dass bewusst Abstriche gemacht werde. Aber der Zeitdruck kann ebenso dazu führen, dass Teilaspekte unbewusst vernachlässigt werden und auf der Strecke bleiben. Ebenso können Defizite in der Teamführung dafür sorgen, dass gewisse Teilaufgaben vom Team nur nachlässig behandelt wurden.
Darüber hinaus kann ein mangelndes Qualitätsbewusstsein dafür sorgen, dass im Nachgang des Projekts noch Nachbesserungen vorgenommen werden müssen. Simultan kann hierzu ein unzureichender Prozess der Qualitätsprüfung genannt werden.
Auch Erwartungen, die auf den Kunden oder den gesamten Markt zurückgehen, können dafür sorgen, dass ein nicht-vollständig optimiertes Produkt das Unternehmen verlässt. Schließlich kann die Time-to-Market ein entscheidender Wettbewerbsvorteil sein. Immerhin sind bei vielen Lösungen noch Verbesserungen nach Markteintritt möglich, gerade wenn es sich um digitale Produkte handelt.
Des Weiteren können auch Defizite in der Kommunikation zum Aufbau von Schulden führen. Werden vorab die Erwartungen an das Projektergebnis nicht eindeutig kommuniziert, so wird dieses vom Klienten möglicherweise als unvollständig wahrgenommen. Folglich offenbaren sich noch technische Schulden, die vom Projektteam im Nachgang einzulösen sind.
Neben den genannten und gängigsten Ursachen ist noch eine Vielzahl weiterer Szenarien vorstellbar, in denen der Output nicht in optimaler Qualität geliefert werden kann oder soll.
Verschiedene Arten technischer Schuld
In der Softwarebranche wird bereits seit Jahren versucht, technische Schulden sinnvoll und zielführend zu kategorisieren. Somit ist heute in der Praxis von vielen Schuldenarten die Rede. Eine Vielzahl dieser lässt sich auch auf das Projektmanagement im Allgemeinen und nicht nur im Softwarekontext anwenden.
So kommt es beispielsweise in Projekten, deren Ziel die Entwicklung eines neuen Produktes ist, häufig zu Designschulden. Dies bedeutet, dass im Zuge der Gewährleistung einer gewissen Basisfunktionalität das Design des Produkts auf der Strecke bleibt. Dieses ist schließlich nicht ausschlaggebend für die reine Nutzung und kann so häufig noch im Nachhinein verbessert werden. Vermieden werden sollten Designschulden aber gerade dann, wenn das Design eine zentrale Nutzendimension des Produktes darstellt.
Das wohl wichtigste Element eines Projekts im Hinblick auf den Lernprozess ist die Projektdokumentation. Diese ermöglicht es, den Projektablauf exakt nachzuvollziehen und die Gründe für entstandene Ineffizienzen zu identifizieren. Herrscht aber großer Zeitdruck im Projektumfeld vor, so geschieht es oft, dass die Dokumentation vernachlässigt wird. Schließlich leistet diese kurzfristig keinen konstruktiven Beitrag zum Projekterfolg. Aber angesichts der hohen Relevanz für den Lernprozess und somit für den Erfolg künftiger Projekte sollten Sie als Projektleiter darauf bestehen, spätestens nach Erreichung des Projektziels die Dokumentationsschulden zu begleichen.
Was auch häufig auf einen hohen Zeitdruck im Projekt zurückzuführen ist, ist das Auslassen extensiver Testphasen. Schließlich kommen Testphasen erst zustande, wenn gewisse Grundfunktionalitäten bereits erfüllt werden. Ist dies der Fall, stiftet das oft nur halbfertige Ergebnis bereits einen Nutzen für den Kunden und kann theoretisch bereits an diesen weitergegeben werden. Mittlerweile ist es in manchen Branchen bereits Normalität, ungetestete Produkte auf den Markt zu bringen. So veröffentlichen beispielsweise Unternehmen aus der Videospielindustrie oft Betaversionen. Dadurch wird die aufgenommene technische Schuld sogar an den Konsumenten weitergegeben, der dementsprechend weite Teile der Testphase freiwillig übernimmt. In derartigen Fällen sollte aber dringlichst kommuniziert werden, dass es sich um unfertige Versionen handelt, um negative Reaktionen weitestgehend zu vermeiden.
Je nach Projektkontext können schließlich unzählige verschiedene Arten von Projektschulden auftreten. Um die Schulden zielführend zu managen, ist es wichtig, diese zu verstehen und zu wissen, worin die aufgenommenen Schulden exakt bestehen. Behalten Sie stets den Überblick über Ihre technical debt, damit diese Ihnen im weiteren Projektablauf keine Probleme bereitet.
Chancen und Risiken technischer Schulden
Zwar werden Schulden oft mit Negativem assoziiert, letztendlich ist aber technical debt grundsätzlich weder schlecht noch gut. Wie auch im finanziellen Unternehmenskontext, wo beispielsweise die Aufnahme von Fremdkapital die Erhöhung der Eigenkapitalrentabilität bewirken kann, so gibt es auch Chancen, die sich aus der Aufnahme von technischer Schuld ergeben. Wie bereits erwähnt, kann diese dafür sorgen, dass Deadlines leichter einzuhalten sind. Jedoch darf hierbei nicht vergessen werden, dass durch die Möglichkeit, Aufgaben auszulassen oder nur notdürftig zu erledigen, auch der Anreiz besteht, dies aus eigener Bequemlichkeit, ohne jegliche Notwendigkeit zu tun. Hier bietet es sich an, jegliche Aufnahme technischer Schulden stets vom Projektleiter absegnen zu lassen, der somit bei einer zu extensiven Nutzung dieser Praktik intervenieren kann.
Aus Sicht des Managements ergibt sich also durch technische Schulden die Möglichkeit, bei einem festen Workload im Projekt den Zeitpunkt der Veröffentlichung des Ergebnisses flexibel zu gestalten. Hier lässt sich wieder die Parallele zur Aufnahme von Krediten ziehen, die es ermöglicht, trotz eines feststehenden monetären Bedarfs den Zeitpunkt der Investition flexibel zu gestalten. Bei finanziellen Schulden ist es häufig einfach, den Überblick zu behalten. Bei Unternehmen reicht hierfür ein einfacher Blick in die Bilanz. Technische Schulden hingegen sind weniger sichtbar. Folglich besteht häufig die Gefahr, diese aus den Augen zu verlieren, was schließlich fatale Folgen haben kann. Zusätzlich ist es auch für die Verantwortlichen einfacher, diese zu ignorieren.
Abschließend ist festzuhalten, dass technische Schulden eine gute Möglichkeit bieten, um Projektergebnisse fristgerecht abzuliefern. Es sollte jedoch stets bewusst sein, dass es sich um Schulden und nicht um Einsparungen handelt. Dementsprechend muss die entsprechende Leistung zu einem späteren Zeitpunkt erbracht werden. Um die technischen Schulden im Rahmen Ihres Projektes erfolgreich managen zu können, ist es wichtig, stets einen geordneten Überblick über diese zu haben. Halten Sie Ihr Projektteam dazu an, die Aufnahme technischer Schulden im Projekt stets ordentlich zu dokumentieren. So können Sie die Vorzüge von technical debt genießen, während Sie die auftretenden Risiken so gering wie möglich halten.